Ich glaube, ich habe einen sechsten Sinn.
Eine Antenne für Signale, die von den meisten Menschen nicht wahrgenommen werden. In meinem Umfeld, bei den Menschen, die mich umgeben, erspüre ich sehr häufig, was zwischen ihnen passiert, welche Gefühle, Neigungen und Abneigungen sie haben, bevor sie es mir erzählen und manchmal auch bevor sie es selber wissen.
Winzige Gesten, ein kaum merkliches Zögern, ein Blick, eine Körperhaltung, das Einnehmen eines Platzes in einem Raum - es müssen diese Dinge sein, die ich mehr unterbewusst als bewusst zu erfassen scheine.
Häufig helfen sie mir, mit meinen Mitmenschen zu kommunizieren, manchmal aber machen sie mich verrückt und bringen alles durcheinander, wie neulich, als ich dachte...
Aber das ist zu kompliziert zu erzählen, denn so gut ich darin bin verworrene Gefühle und komplizierte Beziehungen zu erspüren, so schwer fällt es mir, über sie zu reden (oder gar zu schreiben).
Deshalb zeichne ich sie lieber. Ich habe schon viele, sehr viele davon gezeichnet. Meine Bilder sind bevölkert mit Figuren, die in ambivalenten, widersprüchlichen, leidenschaftlichen, zerstörerischen, banalen... ja in jeder denkbaren (und auch undenkbaren) Beziehung zueinander stehen. Eben genau wie die Menschen, denen ich jeden Tag begegne, die ich schon lange kenne oder gerade erst getroffen habe.

 

Kathrin Dohndorf


Kathrin Dohndorf lässt lustvoll die Tusche dort ausbluten und Strukturen bilden, wo es ihr sinnvoll erscheint, um sie im nächsten Moment wieder mit einem satten Schwarz, einem gleichmäßigen Grau oder dem unerbittlichen Papierweiß kontrastieren zu lassen. Harte Flächen stoßen auf sanft modelliert gestaltete Bildpartien, ausgesparte Zonen formieren sich zum Beispiel zu Händen. Hier und da wird das Papier zuerst mit Wachs bearbeitet, damit die Tusche später darauf abperlen und besondere Strukturen erzeugen kann. Die Inhalte von Kathrin Dohndorfs Arbeiten drehen sich immer um das Thema „Mensch“: Melancholische Gestalten, seltsame Figurengruppen, spannungsgeladene zwischenmenschliche Auseinandersetzungen, aber auch humorvolle Szenen kennzeichnen dabei ihr Repertoire. Aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen, neu kombiniert und arrangiert, entwickeln Kathrin Dohndorfs Figuren ein Eigenleben und erringen somit auch eine neue Bedeutung. Kathrin Dohndorfs Tuschezeichnungen muten erzählerisch an, bleiben jedoch geheimnisvoll, fragmentarisch und enthüllen niemals die ganze Geschichte. Vielmehr ist der Betrachter dazu aufgefordert, die begonnene Erzählung aufzugreifen, sie fantasievoll weiterzuspinnen und vielleicht sogar selbst zu Ende zu führen. Dies ist auch der Grund weshalb ihre Arbeiten titellos bleiben: Die Künstlerin möchte die Interpretation durch den Betrachter nicht beeinflussen und in eine bestimmte Richtung lenken, sondern sie vertraut voll und ganz der individuellen Assoziationsfreiheit.
Die Figuren Kathrin Dohndorfs sind präsent, sind da, und doch muten sie zuweilen an, als wollten sie sich in ihren ursprünglich flüssigen Aggregatzustand zurückversetzen, sich verflüchtigen. Manche der Gestalten berühren uns mit ihrer stillen Melancholie und ihrem schweigenden Schweben auf dem Blatt. Erscheinen sie gerade, oder sind sie im Verschwinden begriffen? Andere Figuren sind eng in das Format eingespannt. Scharf angeschnitten und herangezoomt scheinen sie das Blatt sprengen zu wollen.
Den einzigen Halt all dieser Protagonisten bilden die Ränder des Papierformates, denn feste räumliche Strukturen existieren nicht für sie.
Die Motive bringen uns aber auch zum Schmunzeln, wenn wir zum Beispiel am Hinterteil der Rückenfigur einer Dreiergruppe überraschend eine Art Melkschemel entdecken, der uns schnullergleich entgegengestreckt wird...
...und wenn der Schwanz eines Affen sich unvermutet und völlig unlogisch in der Frisur seines menschlichen Trägers fortsetzt.

Stefan Oppermann, Künstler


Die Tuschezeichnungen von Kathrin Dohndorf erzählen Geschichten über die Unmöglichkeit von Kommunikation und Interaktion. Wortlos stehen sich Protagonisten gegenüber, liegen im Clinch oder haben sich verbündet gegen einen unsichtbaren Anderen. Schmerzliche Situationen und peinliche Momente werden ausgemalt und ausgekostet. Doch wer jetzt denkt, man müsste vor Kathrin Dohndorfs Zeichnungen ins Grübeln geraten, der hat sich in ihr getäuscht. Witz und die Freude am komischen Moment führen das Werk der Zeichnerin aus der Schwermütigkeit in eine Leichtigkeit, die uns aufweckt und kleine Wunden heilt.

Jana Duda, Kuratorin