Konzentriert löffelt die Urgroßmutter Milch aus einem Teller in ihren Mund. Ihre Lippen sind von einem weißen Schimmer überzogen. Ihr Kehlkopf am faltigen Hals bewegt sich rauf und runter. DieSprache der Urgroßmutter war nicht immer leicht zu verstehen, vor allem dann nicht, wenn sie von ihren wochenlangen Sommeraufenthalten aus Polen zurückkehrte.

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„Sie ist hier nie glücklich geworden, das weiß ich.“, äußert ihre Tante am Telefon.
Interessante Geschichten werden seit jeher erzählt. Doch welche davon wahr sind, kann sie nicht sagen. Sie versucht die wenigen Informationen über ihre Urgroßmutter Sophie, die aus vergilbten Postkarten, Fotografien und Erzählungen bestehen, zusammenzutragen und zu ordnen. Verstreut, manchmal vergessen liegen sie bei Sophies weiblichen Nachfahren, der 79 Jährigen Tochter und ihren drei Enkelinnen unter Betten, in Bücherregalen oder Schränken.
Viele Fragen hat sie. Woher kommt Sophie? Wer waren ihre Eltern? Hatte sie Geschwister? War sie verheiratet, wenn ja mit dem Vater ihrer Tochter Dorothea? Warum verließ sie ihn und ihre Heimat?
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Finsternis.
Es ist, als würde sie jemand an der Hand berühren. Das stockdunkle Zimmer, in dem sie die Hände vor den Augen nicht sehen kann. Sie irrt durch die Nacht und findet den Weg nicht hinaus. Manchmal schafft sie es, die Zwischenwelt zu verlassen. 
Was sie dann sieht und hört, erstaunt sie. 
In einem anderen Raum der Wohnung stehend, spricht sie in einer ihrer unbekannten Sprache zu ihren Eltern.
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Nacheinander schreiten die Schülerinnen und Schüler der POS Hans Beimler aus dem Klassenraum zum Fahnenappell. Ein Kind trägt stolz die Fahne der Jungpioniere. Der Schulleiter hält eine Rede über Frieden und Freundschaft, animiert die Kinder, für Nicaragua zu spenden. Lieder werden gesungen. Das Mädchen, sechsjährig ist sie da, steht auf den Treppenstufen, die zum Eingang des kastenförmigen Gebäudes führen. Das riesige Standmikrophon wurde soweit heruntergelassen, dass sie, wenn sie ihren Kopf weit nach oben reckt, das schwarze Gehäuse gerade noch mit den Lippen berühren kann. Sie soll ein Gedicht vor der versammelten Schule aufsagen. Doch nun will ihr einfach nicht einfallen, wie es anfängt. Sie schaut auf den Schulhof, der mit gelben Farbstreifen in viereckige Bereiche unterteilt ist, in der jede Klasse ihren zugewiesenen Platz eingenommen hat. Und schweigt.
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Drückende Wärme im Juni. Die Kinder spielen im Baum. Sie sitzt auf einer Bank und schreibt. Die Sonne brennt auf ihrer Haut. Sie genießt die Ruhe, die sie in diesem Moment hat. Das völlige Versinken. Schritte nähern sich. Sie blickt erstaunt auf. Der junge Mann, der einige Minuten vorher auf der schattigen Bank einige Meter hinter ihr saß, streckt ihr wortlos aber lächelnd eine gelbe Pfingstrose entgegen. Gerade noch rechtzeitig schafft sie es, ein Dankeschön hervorzubringen, bevor er mit langsamen Schritten davonläuft.
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Lilagefärbte Hände. Die Kinder hocken am Boden und pressen Holunderbeeren bis der schwarzblaue Saft in den Eimer fließt.
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Mit schamvollen Blick und dem Mund voller Fischgräten steht sie am Tisch als Fräulein W. hereinkommt. Neugierig hatte sie die Küche der Mitbewohnerin betreten. Die Verlockung war groß gewesen. Sie konnte den Fisch nicht einfach auf dem Teller liegen lassen.
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Wenn die Eifersucht raus muss.
Ein fester Biss in Vaters Daumen.
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Die erste Begegnung mit einem Toten findet im Hausflur statt. Ein offener Sarg, in dem der leblose Körper des alten Mannes liegt, wird von zwei Männern die Treppe hinuntergetragen. Eingefallene Wangen. Dunkle Augenhöhlen. Schütteres Haar. Die Frau von oben hat ihren Vater verloren.
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„Für die Kinder.“ Die Frau von oben kann freundlich sein. Sie arbeitet in einer Kaugummi-Fabrik im nächstgrößeren Ort. Sie überreicht der Mutter an der Tür eine spitze Tüte mit bunten Kugeln, die sich nur schwer knacken lassen. Eine undefinierbare Süße breitet sich im Mund aus, verschwindet nach wenigen Minuten und hinterlässt einen faden Geschmack.
Das Mädchen ist die Erste in der Familie, die sich für Großvaters Geschichte interessiert, Fragen stellt und Antworten bekommt. Ein erstes Öffnen, ein zaghaftes Zulassen der Erinnerungen.
Großvaters weiche Sprache, die es nur noch selten zu hören gibt, sein rollendes R klingen so schön in ihren Ohren. Zur Landschaft seiner Heimat fallen ihm die Worte Weite, Bäume, Felder, Alleen, Seen, unzählige Pferde ein. Er erzählt ihr von den Tagen der langen und beschwerlichen Wanderung. Von dem Verlust der Mutter und den beiden Schwestern. Von toten Menschen in den Gräben, den vielen Soldaten vor einer Scheune, in der sich ein junges Mädchen befand. Der Ungewissheit. Sein Bruder Willi und er waren tagelang alleine unterwegs bis sie die Mutter wiederfanden. Auch die Großmutter kennt solche Geschichten. Im Zug sitzt sie vierjährig. Heinrich, der neue Mann an der Seite ihrer Mutter trägt eine Waffe bei sich und will sie, die kleine Schwester, die Mutter und sich selbst erschießen, falls sie den Russen in die Hände fallen sollten.
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Nur nichts anbrennen lassen. Warum dickt der Brei nicht ein? Mit dem hölzernen Kochlöffel rührt und rührt sie. Der Bruder sitzt am Küchentisch, während sie am Herd einen Brei zubereitet.
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Als sie auf dem Boden aufprallt, verfehlt sie um Haaresbreite den Metallstab, der die jungen Bohnenpflanzen stützen soll. Der Fall vom Nussbaum kam überraschend. Abgesehen von ein paar Kratzern hat sie nichts abbekommen.
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Ein Meer aus riesenhaften Reifen liegt vor ihr. Auf dem Nachbargelände, dass so groß ist wie zwei Fußballfelder, springt sie von einem Reifen zum anderen und versucht dabei ihren Körper geschickt auszubalancieren.
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Türen knallen.
Schnell wie der Wind rennt sie über den Flur. Ihr jüngerer Bruder ist ihr dicht auf den Fersen.
Oder jagt sie ihn?
Lautes Klopfen der Nachbarin aus dem zweiten Stock. Sie schimpft durch die verschlossene Wohnungstür. Die Kinder sollen endlich Ruhe geben.
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Der Platz unter der Treppe ist ein Königinnenreich, das von ihren kostbaren Puppen regiert wird.
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Stufe für Stufe tanzt sie mit hochgesteckten Haaren und geschminktem Gesicht hinunter, während Madonnas like a virgin aus den Lautsprechern eines Kassettenrecorders ertönt.
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Ihr Bett wandert über die Jahre im Zimmer umher. Irgendwann findet es seinen Platz unter der Treppe. Sein Aussehen ändert sich. Aus einem Kinderbett wird eine Jugendliege mit wilder Bemusterung, das schließlich einem Ausklappsofa weicht, auf dem sie erste Erfahrungen mit ihrem eigenem und einem anderen Körper sammelt.
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Der Küchentisch, unter dem sie von Zeit zu Zeit sitzt, erscheint ihr wie eine Höhle Er kommt ihr riesig vor. Er bietet Schutz und Geborgenheit, wenn sie alleine sein will.
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Sie kämmt ihr Haar. Überall Knoten. Diese hässlichen Haare. Dünne Häärchen. Sie reißt an ihnen, will sie herausreißen.
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Wenn sie sich im großes Spiegel des Schlafzimmers betrachtet, ist die Mutter meistens nicht zu Hause. Sie beobachtet genau, wie sich ihr Körper in den Kleidern ihrer Mutter bewegt. Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.
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Vieles tut sie unbemerkt.
Haare färben. Ihre Mutter bewundert später die schönen blonden Strähnen und hinterfragt nicht, wo diese herkommen.
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Die Wut steckt in ihrem Hals fest. In der Kehle. Wut, die nicht entweichen kann.
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Im dunklen Wohnzimmer am Fenster stehend, fragt sie sich, wann die Eltern wiederkommen, ob sie jemals wiederkommen.
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Die ganze Welt ist umgekippt.
Ihre Schulstrecke nach Hause. Schon das Radfahren auf alten Wegen versetzt sie in ihre Kindheit zurück. Vieles hat sich verändert, manches nicht. Sie hatte sich schwergetan, Daniel H. zu kontaktieren. Jetzt, wo sich alle wegen des Virus sorgen. Ihr Anliegen kam ihr zu banal vor.

Sie macht einen kleinen Abstecher zum Haus. Wer hat die Jalousien hochgezogen? Waren sie nicht unten gewesen?
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Gestrüpp. Überall Gestrüpp, dass den Weg zur Hintertür beinahe unpassierbar macht. Fall bloß nicht in die Löcher hinein, denkt sie. Spitze Zweige zerreißen beinahe ihre Hosenbeine. Sie ärgert sich über das Unverständnis ihres Vaters. „Was macht das alles für einen Sinn?, Wen interessiert das überhaupt? Wer will das sehen? Was ist daran Kunst?“ Worte, die sie treffen, die ihr Tränen in die Augen jagen.
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Etliche Bauanträge und dazugehörige Zeichnungen aus den Jahren 1910 bis 1912 liegen vor ihr auf den Tisch. Das Blättern in den hundertjährigen Dokumenten ist aufregend. Vielleicht wird sie Unterlagen zum Haus finden. Die vergilbten Seiten hinterlassen ein klebriges Gefühl auf den Fingerkuppen. Ein besondere Duft unterstreicht deren Alter. Die kleine Stadt schien in jener Zeit zu wachsen. Viele Menschen, Privatleute wie auch Unternehmer, ließen Wohnhäuser erbauen oder bauliche Veränderungen vornehmen.
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Sophie, ihre Urgroßmutter, trägt ein geblümtes Kopftuch, wenn sie auf den Straßen des kleinen Ortes unterwegs ist. Sie ist eine kleine Frau. In ihren späten Lebensjahren bewohnt sie ein Zimmer im Hause ihrer erstgeborenen Tochter. Als kleines Mädchen besucht die Frau ihre Urgroßmutter oft. Zu zweit sitzen sie dann auf ihrem Bett. Das Mädchen liest ihr laut vor. Häufig aus der Bibel. Langsam und holpernd liest sie Sätze, die von der Schöpfung Adam und Evas handeln. Sophie besaß aber auch viele  Bücher vom Krieg. Immer wieder betrachtete sie gemeinsam mit dem Mädchen die farbigen Zeichnungen von blauuniformierten Soldaten auf Pferden, die lange Schusswaffen in ihren Händen tragen.