15. Oktober 2019

Am Fenster liegend betrachtet sie den Baum hinter dem Haus. Im Sonnenlicht leuchten die Blätter in den verschiedenen Grün- und Gelbtönen. Schön sieht es aus, obgleich die Blätter nur noch mit letzter Kraft an den Zweigen zu hängen scheinen. Bald wird der Wind an ihnen rütteln, bis sie sich nicht mehr halten können. Kaum eine Bewegung ist zu sehen. Nur eine Elster fliegt von einem Ast zum nächsten. Unter die Geräusche der Fahrzeuge auf der Straße mischen sich die Laute der Kraniche, die in den Süden fliegen.

An der Kasse im Supermarkt wird sie von einer Frau auf ihr Gemüse angesprochen, dass auf dem Warentransportband ausgebreitet liegt. Birnen, Eichenblattsalat, Feldsalat, Endiviensalat, Romana Salatherzen. „Das ist ja alles Grün. Und wissen Sie was, das hat eine Bedeutung. Ich bin Farbberaterin, wissen Sie!“



11. März 2020

Wonach soll sie in einem verlassenen Haus suchen? Was bringt die Erinnerungen zurück? Tapeten. Schicht um Schicht zurück in die Vergangenheit. Sie lösen sich von den Wänden und hängen in langen Bahnen in den Raum hinein. Das Haus häutet sich, denkt sie sich. Doch folgt auf die Häutung keine Erneuerung.


Ihr Sohn am 14. August 2020


„Das Nirgendwo ist hier verteilt.

Im Nirgendwo-Land kann das Wasser über die Berge fließen. Man kann sich im Nirgendwo-Land verlaufen.

Lies die Nirgendwo-Sprache.

Jetzt erforschst Du das Traumland


22. April 2020

Übellaunig begegnet ihr die Mutter am frühen Morgen. ,,Wie es da unten aussieht. So sah es hier noch nie aus. Lange mache ich das nicht mehr mit.‘‘ Die eigene Unzufriedenheit lässt sie mal wieder anihr aus.

Sie erinnert sich an die Worte ihres Sohnes. ,,Denke an die Weisheit. Du sollst dich nicht aufregen, sonst gibt es Streit. Wenn man sich streitet sollte man nicht hineingeraten. Sonst wird es in derWeisheit im Kopf, alles wird gelöscht. Dann kommt nur etwas Böses heraus.‘‘ 

Das Beste wird es wohl sein, nicht auf die Worte der Mutter zu reagieren. Aus Erfahrung weiß sie, dass es nichts bringt. Sei nachsichtig, sagt sie sich. Sei das Ventil.


31. März 2020

Je länger sie am Haus baut, desto tiefer gelangt sie hinein. 
Zweifel und Ängste, die sie zu ihren eigenen zählte, gehören zu einer anderen Person. Sie gehören nicht zu ihr. 
Sie lernt vom Haus.
Alles wiederholt sich. Das ganze Leben besteht aus Wiederholungen. Bei näherer Betrachtung lässt sich jedoch erkennen, dass sie sich in Nuancen verändern. Manchmal sind es winzige, manchmalgrößereVeränderungen.


22. April 2020

Einige Tage nachdem K. die Nummer des verstorbenen Anton K. erhalten hat, beginnt es. Etwas Sonderbares.
Sie erwacht früh am Morgen. Ihr Sohn liegt schlafend neben ihr. Wie so oft hat er sie im Laufe der Nacht fast bis an den äußeren Rand des Schlafsofas im Gästezimmer ihrer Eltern gedrängt.DieerstenVögel zwitschern in der Dämmerung, während sie schlaftrunken nach ihrem Handy auf dem rauen Teppichboden greift. Ihre Finger scheinen ganz von selbst den Zahlencode einzugeben. Müde blicktsieaufihr Smartphone. Leben Kehrt in ihre Glieder zurück. 
Eine Meldung von Anton K.

 

 

20. Juni 2020

Die Bilder einer fremden Person vermischen sich mit den eigenen. Wo hört das eigene Leben auf und wo beginnt das Leben der Anderen.

 

 

1. Juli 2020

Ein wilder Wind tobt sich über der Stadt aus. Beinahe bläst er ihr das
Papier aus der Hand. Auf einer Leiter, die wackelig an der Hauswand lehnt, steht sie und versucht die Schrift der Steintafel mit einem Stück Graphit auf das Papier zu reiben. Es funktioniert. Die Buchstaben erscheinen. Mehrere Autos fahren vorbei. Sie fühlt sich beobachtet. Alle Nachbarn stehen sicherlich hinter den Vorhängen und starren sie an. Was die wohl denken mögen? Unbefangen sammelt ihr Sohn heruntergefallene Brocken der Hausfassade, Dachziegeln und Bruchstücke der Regenrinne ein. Er wollte als Erster die Leiter besteigen, reckte sich, zerrte aufgeregt an dem alten Nummernschild und hielt die Trophäe stolz in seinen Händen.

 


9. März 2020

Eine Tante zweiten Grades rät ihr von weiteren Besuchen ab. Es handle sich um Hausfriedensbruch und zudem sei das Haus baufällig. Sie sorgt sich. Eine Unfall könne passieren. Sie könne in irgendwelche Drogendelikte verwickelt werden. Im Ort habe man ein Problem mit Drogenhändlern. Im gleichen Zug bietet sie Unterstützung an und holt ihr Mobiltelefon aus der Tasche.

 

 

29. April 2020

Jeden Tag erhält sie nun Bilder mit knappen Meldungen. Sie kommen und gehen. Unbekannte Menschen in ihrer vertrauten Umgebung. Gesellige Zusammenkünfte trotz der Kontaktbeschränkungen.

 

 

18. April 2020

Gerade eben eine Email an den Vorsitzenden des Heimatvereins St. Wenzel geschrieben, in der Hoffnung an weitere Informationen oder gar Bilder zum Haus und dessen Erbauer zu gelangen.

 


29. Juni 2020

Von ihrer Mutter weiß sie, dass Peter S. Neuigkeiten hat. Mit dem klapprigen Fahrrad fährt sie durch den Ort. Der lockere Fahrradsitz dreht sich im Rhythmus des Kopfsteinpflasters mal nach links, mal nach rechts. Sie ist gespannt. An der Haustür überreicht Peter S. ihr eine Plastiktüte. Die Dokumente aus dem Stadtarchiv sind ein kleiner Schatz. Obwohl er gerade aus dem Urlaub wiedergekommen ist, sieht er mitgenommen aus.



Ks Sohn am 24. April 2020


„In einem Alptraum musst Du Dir sagen, ist doch nicht schlimm. Nur wenn es in echt passiert, ist es schlimm.

Das musst Du Dir merken!“



29. Juni 2020


Im Mai 1912 wurde der Bauantrag für das Haus genehmigt. Im Sommer des selbigen Jahres, weit entfernt von diesem Ort, wurde ihre Urgroß- mutter geboren.